Entwicklertagebuch #9
Datum: 20.01.2010

Das Charakter-Design von „Drakensang: Am Fluss der Zeit“ oder Warum kantige Kerle interessanter sind als aalglatte Schönheiten

Charaktere zu erschaffen, bedeutet auch, dem Spiel eine Seele zu geben. Denn von der Glaubwürdigkeit und Tiefe der Charaktere hängt es ab, wie glaubwürdig und tief das Spiel ist. Hierzu brauchen die Figuren nicht nur eine mitreißende Geschichte, sondern auch ein entsprechendes Erscheinungsbild. Letzteres ist Aufgabe unseres Charakter-Designs, dessen Arbeit wir euch im neunten von insgesamt 15 Entwicklertagebüchern vorstellen wollen.

Die Ideen für die Charaktere kommen aus dem Game Design. Hier wird bestimmt, was eine Figur ausmachen, wie sie sich verhalten soll, das gesamte Äußere. Diese kurzen Charakterbeschreibungen gehen dann an einen unserer Charakter-Designer. Der zeichnet eine Skizze, an der vom Game Design dann noch ein paar Korrekturen vorgenommen werden und schließlich geht das ganze in die Pipeline – der Charakter wird zum Leben erweckt!

Prinzipiell ist es bei Spielfiguren nicht anders als bei uns Menschen. Die tragende Struktur, sozusagen das Grundgerüst, bildet das Skelett. Bei „Drakensang: Am Fluss der Zeit“ stehen für Spielerfiguren drei Skelettkategorien zur Verfügung, die sich insbesondere in den Proportionen unterscheiden: eine menschlich männliche, eine menschlich weibliche und eine zwergische. Meistens ist klar, welches Skelett welcher Figur zugeordnet wird. Es kann aber vorkommen, dass auch ein menschlicher Charakter auf einem zwergischen Skelett basiert – dann beispielsweise, wenn es sich um einen eher gedrungenen, untersetzten Typus handeln soll.

Natürlich erlaubt es unsere Engine, die diversen Knochen (Bones) zu skalieren und die Proportionen individueller zu gestalten. So können wir die Köpfe größer oder kleiner, die Arme länger oder kürzer und die Oberkörper breiter machen. Elfen beispielsweise zeichnen sich durch einen schlanken, beinahe androgynen Körperbau aus. Um diesen Effekt zu erzielen, ziehen wir lediglich Frauenskelette in die Länge. Bei Monstern ist es hingegen etwas komplizierter. Hier müssen wir häufig ganz neue Skelette bauen oder die vorhandenen sehr stark verändern. Der damit verbundene Aufwand ist zwar groß, aber in jeder Hinsicht lohnenswert, da die Welt nun abwechslungsreicher erscheint.

Damit die Figuren allerdings ihr unverwechselbares Erscheinungsbild erhalten, braucht es noch etwas mehr her als ein bloßes Gerüst: Nämlich bestimmte Kleidung, sichtbare Ausrüstungsgegenstände und ein prägnantes Gesicht. Hierbei ist das sogenannte Normal Mapping sehr wichtig. Es ermöglicht trotz limitierter Anzahl an Polygonen – also den einzelnen geometrischen Formen, aus denen sich Figuren zusammensetzen – einen immensen Detailreichtum bei den Texturen. Das Gewand wirft nun Falten, die Streitaxt weist Kratzer auf oder das Gesicht trägt eine markante Narbe. Mit dieser Technik schaffen wir es, vielmehr Einzelheiten darzustellen als es die Polygone eigentlich zulassen. Der Vorteil: Wir erzeugen eine größere visuelle Vielfalt, ohne dass wir unnötig Rechenleistung beanspruchen.

Gegenüber „Drakensang“ kommt Normal Mapping nun häufiger zum Einsatz, wodurch wir den Gesamtlook an vielen Stellen deutlich verbessern konnten. Insbesondere bei den Gesichtern nehmen wir uns jetzt viel mehr Zeit und tüfteln solange, bis wir wirklich zufrieden sind. Denn Gesichter sind es, die den Charakteren Ausdrucksstärke und Tiefe verleihen. Sie sollen sich euch buchstäblich in Gedächtnis brennen und zum einzigartigen Spielerlebnis beitragen.

Deshalb macht es uns auch am meisten Spaß, Charaktere mit Ecken und Kanten zu gestalten, urige Typen eben, mit deren Hakennase oder Augenklappe man gleich eine bestimmte Geschichte verbindet. Generell sind wir bei „Drakensang: Am Fluss der Zeit“ bestrebt, viele markante Charaktere zu entwerfen. Keine glattgebügelten 08/15-Figuren, sondern zwielichtige Kerle mit schiefen Gesichtszügen oder kräftige Kriegerinnen, denen man gleich ansieht, dass sie zupacken und einen Gegner übers virtuelle Nirgendmeer befördern können.

Auch sind solche Charaktere einfach näher an der Realität. Echte Menschen haben beispielsweise selten so symmetrische Gesichtszüge, wie es das gängige Schönheitsideal propagiert. Eher langweilig ist es daher, eine klischeehafte schöne junge Prinzessin zu designen. Hier ist der künstlerische Spielraum von vornherein stark begrenzt, weil ihr Aussehen mit klaren Erwartungen verknüpft ist. Einen alten Haudegen mit einer bewegenden Vita zu visualisieren, erfordert hingegen ungleich mehr Fantasie.

Ein prägnantes Aussehen hat darüber hinaus auch einen praktischen Nutzen. So dienen besondere Erscheinungsmerkmale wie Schmutz oder Schweißflecken dazu, Gruppen voneinander zu unterscheiden. Unsere Flussräuber beispielsweise starren nur so vor Dreck – wie es sich eben für echte Räuber gehört. (Stadtbewohner sind dagegen eher gepflegt.) Und auch innerhalb der Gruppe gibt es wieder optische Unterschiede, damit klar wird, wer etwa der Kapitän und wer ein Matrose ist.

Selbstverständlich orientieren wir uns beim Charakter-Design an den DSA Pen & Paper-Vorlagen. Problematisch ist hier, dass im Laufe der Jahre verschiedene Künstler mitgewirkt und sich die Zeichnungen in den Publikationen stilistisch stark verändert haben. Zudem ist es geradezu charakteristisch für die DSA-Welt, dass sich ihre Schöpfer aus diversen historischen Epochen wie dem Mittelalter oder der Renaissance bedienen und daraus ihren ganz eigenen Stil kreieren. Unsere Herausforderung besteht nun darin, Vorlagen und eigene Ideen so zusammenzuführen, dass der Eindruck eines stimmigen Universums mit hohem Wiedererkennungswert entsteht.

Besonders heikel ist die Arbeit an bekannten DSA-Figuren, Figuren also, von denen ihr bereits ein genaues Bild im Kopf habt. Damit wir euren und unseren Ansprüchen gerecht werden, suchen wir daher dasjenige Artwork aus, was der Definition in den offiziellen Beschreibungstexten am nächsten kommt. Bei der Visualisierung berücksichtigen wir allerdings auch, welchen Lebensstil der Charakter pflegt oder welche Eigenschaften er besitzt. Und natürlich diskutieren wir viel untereinander. Denn nur so erzielen wir ein Ergebnis, das für alle zufriedenstellend ist: ein Spiel mit Seele, dessen Charaktere so tief und faszinierend sind, wie unser Fluss der Zeit selbst.

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geschrieben von Torgan